Reise der Frau Lotter

Allein auf hoher See
Geschichte   1786 packt eine Schwäbin ihr Bündel und fährt allein nach Amerika. Die Reise der Frau Lotter aus Herrenberg nach Charleston ist zu abenteuerlich, um wahr zu sein. Ist sie aber doch, wie ein neues Buch des Stadtarchivs Stuttgart beweist.
Aus dem Tagebuch der Frau Lotter
Kochen und Essen war fast unser ganzer Lebenslauf. Des Morgens Maulwein o. i. Malage mit Eierdotter, Citronen & Gewürz, ein warmes Getränk; um 9 Uhr Caffie; um 10 Uhr Punsch oder Brantwein, …

Kopfbild; Autograph der Eberhardine Christiane Lotter

Als der Koch ihr das Butterbrot serviert, ist ihr der Appetit fast schon vergangen. Allein sein Anblick „war ekelerregend“, notiert Eberhardine Christiane Lotter, „denn die Butter war voller Haare, Geruch und Geschmack waren noch häßlicher“. Eigentlich ist sie schwäbische Küche gewöhnt. In den kommenden Wochen aber muss sie sich begnügen mit „Erbsen, ohne Fett, voll von Würmern“, mit „abscheulichen Gersten“ und zwischenrein Schiffszwieback – „schwarz ohne Geruch und Geschmack, wie eine Erdscholle und steinhart“. Igittigitt!

Aber das hat Eberhardine Christiane Lotter nun davon, dass sie sich heimlich aus Herrenberg davongeschlichen hat. 1786 macht sich die Kaufmannsgattin auf den Weg und reist nach Amerika – allein. Ihr Ziel ist Charleston in South Carolina, wo sie ihren Mann treffen und an seine Pflichten als Ehemann und Vater erinnern will. Denn Tobias Gottlieb Lotter, der ein Jahr zuvor mit seinem Schwager ausgewandert ist, wollte nicht nur seine Lieben nachholen, sondern eigentlich auch Geld schicken. Als das ausbleibt, nimmt Frau Lotter die Angelegenheit selbst in die Hand.

Dass sich eine Frau in diesen Zeiten allein auf solch einen weiten Weg macht, ist eigentlich kaum möglich. Lotter aber marschiert los, zunächst geht es zu Fuß nach Ludwigsburg, wo ihr plötzlich bang wird und sie ans Umkehren denkt. Sie steigt aber doch in den Postwagen gen Frankfurt, weiter geht es auf einem Marktschiff in Richtung Köln, dann nach Rotterdam und schließlich aufs Meer nach Amerika.

Eine unglaubliche Geschichte

Eine abenteuerliche Reise, die Eberhardine Christiane Lotter auf 117 Seiten aufgeschrieben hat, letztlich ist sie sogar noch abenteuerlicher, dass Katharina Beiergrößlein und Jürgen Lotterer zunächst kaum glauben mochten, dass sich das alles so ereignet hat. Seit vielen Jahren befindet sich ein mit Tinte geschriebenes Manuskript der „Beschreibung meiner Reise nach Charlestown“ im Stadtarchiv Stuttgart. Die Historiker Katharina Beiergrößlein und Jürgen Lotterer haben das, was ihrer ersten Meinung nach kein „authentisches Selbstzeugnis“ sein konnte, wissenschaftlich aufgearbeitet – und wurden vom Gegenteil überzeugt. Denn sie konnten viele in dem Bericht erwähnte Personen identifizieren. Sie konnten die Passagierliste auftreiben, auf der tatsächlich eine Frau Lotter namentlich erwähnt ist. In den Herrenberger Gerichtsprotokollen stießen sie auch auf Hinweise, dass ein gewisser Tobias Gottlieb Lotter auswandern wollte.

Damit ist sicher: Eberhardine Christiane Lotter hat weder die zahllosen Strapazen und Torturen erfunden noch die Begegnungen mit den Ureinwohnern. Die Schwäbin staunte nicht schlecht, als sie plötzlich vor einem „ewig langen baumstarken Mann“ stand, „seine Gesichtsfarbe pomeranzengelb, durch die Nase einen dicken silbernen Ring gezogen, mit langen auf die Achseln herabhängenden Ohren, einen Hut mit einem Federbusche auf dem Kopfe.“ Lotter wusste sofort: Das muss ein „indianischer großer Herr“ sein.


A view of Charles-Town, the capital of South Carolina [graphic] / painted by Thos. Leitch ; engraved by Saml. Smith. – Library of Congress, Washington D.C. USA

Forschungsergebnisse aus dem Stadtarchiv Stuttgart

Das Stadtarchiv Stuttgart hat die Forschungsergebnisse in einem Buch zusammengestellt und den Reisebericht mit zahlreichen Kommentaren versehen, so dass man nun mit Frau Lotter bangen kann, wenn sich mal wieder ein ungehobelter Wüstling an sie heranmachen will. Denn wenn Lotters Bericht etwas deutlich macht, so die Rolle der Frauen im 18. Jahrhundert. Als Alleinreisende muss sie sich ständig gegen zudringliche Herren zur Wehr setzen und gilt als Freiwild. Hier spotten „einige junge Herren von der Gesellschaft“ über sie und versuchen, ihr „unhöflich zu begegnen“, dort werden manche Männer auch „dreister und fingen an mich zu betasten – sie untersuchten alle meine Kleidungsstücke, meine Geldtasche, wollten sich halb todt drüber lachen“, schreibt Eberhardine Lotter. Einmal wollen die Männer sogar nachsehen, „ob ich nicht gar Hosen anhabe, denn das sei bei den Württembergern so der Brauch.“

Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts zog es Tausende Württemberger nach Amerika, wo sie in den englischen Kolonien ihr Glück machen wollten. Die Bereitschaft auszuwandern wuchs, wenn man bereits Kontakte in die Neue Welt hatte. Ein Drittel der Kolonien soll gar von Deutschen besiedelt gewesen sein. Und so beschließt auch Tobias Gottlieb Lotter, Herrenberg zu verlassen, wo es mit seinen Geschäften immer schlechter läuft. Dabei hatte die Familie es eigentlich zu etwas gebracht. Doch bald, nachdem sich das Paar in Herrenberg niedergelassen hat – Frau Lotter kommt gebürtig aus Stuttgart –, geraten die Geschäfte des Kaufmanns in Schieflage. Ein Konkursverfahren gibt schließlich den Ausschlag, dass Tobias Gottlieb Lotter auswandert, gemeinsam mit dem Arzt Carl Ludwig Seeger.

Leicht wird es für die Strohwitwe Lotter nicht gewesen sein, die mit den Kindern und den Schulden zurückbleibt und denn auch vergeblich auf Finanzspritzen ihres Mannes wartet. Als sie sich selbst auf die Reise macht, hat sie nicht mehr als 130 Gulden in ihrer Börse, „davon 100 Gulden in Gold in die Hamtenn“, also ins Hemd, eingenäht. 30 Gulden verbraucht sie noch auf dem Landweg, die restlichen 100 Gulden, die der Kapitän kassiert, beinhalten angeblich Kost und Logis. Als sie auf hoher See sind, wird der Reisenden bewusst, wie erbärmlich die Verköstigung ist. „Ich meinte anfangs nicht, daß ich meinen Ekel überwinden und anbeißen könnte, aber ich fand, daß der Hunger der beste Koch ist und aß zuletzt ohne Bedenken sogar mit Appetit.“

Vermutlich hat sich Eberhardine Christiane Lotter während der Reise schon Notizen gemacht, geschrieben wurde der Bericht aber erst Jahre nach ihrer Rückkehr, da sind sich Katharina Beiergrößlein und Jürgen Lotterer sicher. Sie vermuten, dass die Autorin bereits um die 60 Jahre alt war, als sie ihre Erinnerungen zusammenschrieb beziehungsweise notieren ließ. Möglicherweise konnte sie wegen ihres Alters nicht mehr so leserlich schreiben, weshalb sie die Niederschrift abgab.

Der Plan ist misslungen

Die Lektüre ihrer Reisenotizen verrät eine klarsichtige, bodenständige Frau, die zunächst etwas naiv gewesen sein mag, sich aber bald in der rauen Männerwelt zu erwehren weiß und wachen Auges durch die Welt geht. Die Nordamerikaner, notiert sie, seien ihr „edel, freimüthig wahrheitsliebend wohlthätig“ begegnet, „alles in einem bei uns selten erhörten Grade“. Nur stößt ihr auf, wie die Weißen mit den Schwarzen umgehen. Sie verleugneten „oft ihre Menschenfreundlichkeit“ – und betrachteten sie wie Waren, „weil sie sie, wie jedes andere Möbel gekauft hatten“.

Lotter war losgefahren „mit dem Auftrage, das Land, Klima, Sitten usw. zu besehen, ob es der Mühe werth wäre, selbst auch mit unsern Kindern vollends hineinzuziehen“. Obwohl ihr Mann sie überzeugen will, in Charleston zu bleiben, – „O mein Weib! Ich kann Dich nicht lassen!“, packt sie doch wieder ihr Bündel, um nach Herrenberg zurückzukehren – allein. Mutig, wie sie durch die vielen Abenteuer geworden ist, steigt sie wieder aufs Schiff trotz starken Wellengangs. „Wir sind Männer, wir thäten’s nicht“, warnen die Männer, „aber ich sah hinter diesem wogenden Meer meine Kinder winken und alle Furcht verschwand.“

Am 14. Mai 1787 kommt Eberhardine Christiane Lotter wieder in Herrenberg an – mit einem halben Kreuzer in der Tasche. Den Zweck ihrer Reise habe sie verfehlt, notiert sie, der Plan sei misslungen. Bereut hat sie es trotzdem nicht, sondern hat es immer wieder genossen, in Erinnerungen zu schwelgen an „die Schicksale dieses merkwürdigen Jahres“.

Quelle: Stuttgarter Zeitung, 6. April 2019, von Adrienne Braun